SICHTWEISE
BIOGRAPHISCHE ANEKDOTE
Meine Eltern und Brüder tragen alle eine Brille oder Kontaktlinsen. Auch ich erhielt, als ich 15 Jahre alt war, eine Brille wegen Kurzsichtigkeit. Allerdings setzte ich sie nie auf und fand mich damit ab, als halbblinder Maulwurf aus dem Haus zu gehen. Einmal winkte mir von der anderen Strassenseite jemand zu und rief meinen Namen. Ich winkte freundlich zurück, obwohl ich diese Schattengestalt nicht erkennen konnte. Als ich 18 Jahre alt wurde erhielt ich, nach bestandener Autoprüfung, einen Eintrag im Führerausweis, dass ich beim Auto fahren eine Brille tragen muss.
Die Jahre vergingen und da ich die Brille nach wie vor nicht benutzte, gewöhnte ich mich an meine schlechten Augen. Nach meinem Empfinden konnte ich alles sehen und das genügte vollkommen. Vor allem wenn ich von einer Weltreise nach Hause zurückkehrte, hatte ich das Gefühl, dass meine Sicht viel klarer war.
Nach meinem 45. Geburtstag machte ich aus reiner Neugier bei einem Optiker einen Sehtest. Er sagte mir, dass ich keine Brille brauche, ich sähe so gut wie ein Adler. Ich war überglücklich. Offenbar wurden meine Augen durch Yoga geheilt.
Vier Jahre später kam ich auf dem Heimweg in eine Polizeikontrolle. Ein junger uniformierter Polizist winkte mich auf der Seestrasse hinaus. Ich fuhr auf einen Garagenplatz und er und sein Kollege kontrollierten mein Auto von allen Seiten. Der zweite Polizist, verlangte meinen Führerschein und fragte mich nach eingehender Begutachtung: „Tragen Sie Ihre Kontaktlinsen?“
„Kontaktlinsen? Nein, ich hatte noch nie Kontaktlinsen“, war meine erstaunte Antwort.
„Wo ist dann ihre Brille?“, fragte er weiter.
„Ich habe auch keine Brille!“
„Seit wann fahren Sie ohne Brille Auto?“
„Schon immer!“, war meine überraschte Antwort. Jetzt wurde es mir langsam zu blöd.
Mit eiskaltem Blick starrte er mich an und sagte: „Sie müssen zu Fuss nach Hause gehen. So dürfen Sie nicht mehr Auto fahren. Ich muss Ihnen jetzt ein paar rechtliche Fragen stellen. Sie dürfen die Aussagen verweigern. Ich werde dies dann im Protokoll vermerken.“
Jetzt wurde es mir schon ein wenig schummerig. Ich erinnerte mich, dass der Eintrag, den ich als 18-Jährige im Ausweis erhalten hatte, immer noch dort war.
Ich sah ihn offen an und sagte: „Dieser Eintrag ist völlig veraltet. Es tut mir leid, dass ich nicht daran gedacht habe, ihn ändern zu lassen. Meine Augen sehen wunderbar. Ich kann Ihnen das beweisen.“
Er glaubte mir kein Wort, was nicht verwunderlich war. Denn normalerweise verschlechtern sich die Augen. Ich deutete auf ein Schild, welches ganz weit weg war und begann zu lesen, was darauf stand. Der Polizist wollte dies nicht hören und winkte ab. Aber es war schon zu spät. Er merkte, dass irgendetwas nicht stimmen konnte, da ich einfach nicht aufhörte zu lesen. Daraufhin rief er seinen Chef an und fragte ihn, was zu tun sei. Dieser meinte: „Wenn diese Frau bis hierhin fahren konnte, kommt sie auch noch nach Hause. Lass Sie fahren.“
Ich atmete auf und fuhr nach Hause. Eine Woche später erhielt ich einen eingeschriebenen Brief vom Gericht Meilen. Ich erhielt die Wahl, entweder eine hohe Busse zu bezahlen oder einen Tag ins Gefängnis zu gehen.
Sofort vereinbarte ich einen Termin beim Augenarzt. Er attestierte mir, dass ich einwandfrei sah. Nach diesem Bescheid zog das Gericht die Anklage zurück und ich liess den Eintrag im Führerausweis ändern, damit ich nicht noch einmal in eine solche Situation kam.
Samira